Zeit der Entscheidung

Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel – an dieser Einschätzung hat sich nichts geändert. In den letzten zwei Jahren hat sich die Politik Zeit verschafft, aber keines der vordringlichen Probleme gelöst. Die Konstruktionsfehler bei der Euro-Einführung, nämlich Geldpolitik zu vereinheitlichen, aber gleichzeitig die Fiskalhoheit bei den einzelnen EU-Staaten zu belassen, hat sich in der ersten Krise gerächt und zum wirtschaftlichen Niedergang einzelner Mitgliedsländer geführt. Das frühere Regulativ in Rezessionszeiten, die Abwertung der eigenen Währung, war nicht mehr vorhanden.

Im Grunde handelt es sich vordergründig um eine Staatsschuldenkrise, die von den betroffenen Ländern entsprechende Konsequenzen bis hin zum Default erfordert hätte. Dies wollte die Politik unter allen Umstanden vermeiden. Die unter dem Druck der Politik vorgenommenen Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) haben nicht nur die Schulden vergemeinschaftlicht, sondern auch die Unabhängigkeit der Bank ad absurdum geführt. 

Schuldenkonsolidierung – aber wie?

Die möglichen Maßnahmen zur Reduzierung von Staatsschulden sind schnell genannt:

1.    Haushaltskonsolidierung,
2.    Wirtschaftswachstum,
3.     Schuldenschnitt/Staatsinsolvenz,
4.    Monetarisierung der Schulden (Notenpresse).

Die den südlichen Ländern auferlegten Sparpakete führen in wirtschaftlichen Schwächephasen unweigerlich in die Rezession. Wirtschaftswachstum scheidet bei Betrachtung der makroökonomischen Rahmendaten aus, da frühere Wachstumsmotoren wie die USA, Japan und Großbritannien ebenfalls schwächeln und die Schwellenländer diese Funktion noch nicht übernehmen können. 

Staatsinsolvenz? Griechenland ist pleite und benötigt einen Schuldenschnitt von mindestens 70 Prozent. Gleichzeitig wird (nicht nur) Griechenland nicht in der Lage sein, seine Wettbewerbsfähigkeit innerhalb des Euro wiederzuerlangen.

Die Politik hat sich entschieden, das Schuldenproblem durch die Herbeiführung von Inflation zu lösen. Die für viele Beobachter überraschend gute Entwicklung der meisten Börsen in diesem Jahr ist eine direkte Folge der weltweiten monetären Lockerungen. Die Verfügbarkeit von Kapital ist für die Aktienmärkte -kurzfristig - wesentlich wichtiger als Unternehmensergebnisse. Bei der Vorlage der Q4-Zahlen zur Gewinnentwicklungen der Unternehmen in Europa wurden viele Erwartungen verfehlt. Aber die Party an der Börse ging weiter. Wir bleiben trotzdem skeptisch. Die gesamte Diskussion über Zerfall des Euros und Rettungsschirme erübrigt sich für die nächste Zeit im Hinblick auf die neue EZB-Politik.

Wie geht es im Umfeld von Staatsverschuldung und Bankenkrise weiter?

Nach gefühlt 192 EU-Gipfeln ist noch keine tragfähige Lösung in Sicht. Vorrangiges Ziel muss es sein, ein Übergreifen dieser politischen Unsicherheit auf die Realwirtschaft und damit eine Rezession zu vermeiden. Ohne massive Interventionen der EZB war der europäische Zerrüttungsprozess nicht aufzuhalten, denn die Zeit der billigen Lösungen ist vorbei. 

Im Dezember gewährte die EZB den Banken 500 Mrd. Euro mit 3-jähriger Laufzeit zu 1% Zins (sie gingen zu drei Vierteln an italienische Banken). Letzte Woche kamen noch einmal  530 Mrd. Euro mit wiederum drei Jahren Laufzeit und 1% Zins hinzu. In den letzten 3 Monaten hat die EZB den Banken nunmehr mehr als 1 Billion (= 1.030 Milliarden) Euro zum Überleben zur Verfügung gestellt. Das entspricht sage und schreibe rund 10% des europäischen Bruttoinlandsprodukts. Griechenland wird meiner Meinung nach trotzdem den Euro wohl in diesem Jahr verlassen (müssen), aber die Unmengen an Geld sollen die Folgen für die betroffenen Banken kaschieren. 

Glauben Sie bitte nicht, dass auch nur ein einziges Problem gelöst wäre. Jens Weidmann, der Präsident der Deutschen Bundesbank hat in ungewohnt scharfer Form die Zukunft des Euros in der jetzigen Form angezweifelt. Die EZB habe nunmehr den Rubikon überschritten, zu Lasten der Bundesbank und damit zu Lasten des deutschen Steuerzahlers.

Die Rettungsschirme und sonstigen Fazilitäten tragen zwar die Namen „European…“, aber Europa kommt darin zu kurz. Italien und Spanien sind selbst zu einem Drittel am Rettungsfond beteiligt, was aber nichts nützt, wenn sie auch Geld benötigen. Bleiben im Wesentlichen noch Deutschland mit 43 Prozent und Frankreich mit 33 Prozent. In absehbarer Zeit könnte Frankreich jedoch ebenfalls zu den Nehmerländern gehören. Damit stellt sich die Frage: Wer rettet die Retter? Die Konsequenzen für Deutschland wären fatal. Das von der Politik verfolgte globale Ziel eines starken Europa können wir uneingeschränkt unterstützen, aber es darf nicht dazu führen, dass Deutschland sich ohne Zwang in einer Höhe dafür verschuldet, wie es bisher noch kein Land auf der Welt jemals für Dritte getan hat.

Schwerer Weg nach Europa

Die von uns präferierte Lösung ist ein Austritt der stärkeren Länder um Deutschland zur Bildung eines neuen Kern-Euro. Die im „Alt“-Euro verbleibenden Länder könnten dann ohne dauerhaften Gesichtsverlust unter Begleitung von Schuldenschnitt und Haushaltskonsolidierung ihre Finanzen in Ordnung bringen. Grundsätzlich muss sich die Politik der Europäischen Union überlegen, ob sie kleinere Erdbeben bei der Neuordnung des Euro in Kauf nimmt, die zwar Kollateralschäden in den Finanzmärkten verursachen, deren man aber noch Herr werden kann, einschließlich der dann notwendigen Bankenrettung. Die Alternative ist ein Weitermachen wie bisher mit dem  Risiko, in nicht ferner Zukunft ein großes Erdbeben zu entfachen, das Euro-Land weder finanziell noch sozial aushalten wird.

Das gern benutzte Killerargument „Euro = Europa = Frieden“ geht an der Realität vorbei. Betrachtet man die sich abzeichnenden gesellschaftlichen Entwicklungen in den einzelnen Ländern, erkennt man eher eine gegenläufige Tendenz. Früher etablierte Parteien verlieren an Zustimmung, Randparteien werden stärker, Misstrauensvoten und Vertrauensfragen in den Parlamenten sind an der Tagesordnung. Es besteht die große Gefahr, dass die Gemengelage zu tiefen gesellschaftlichen Spannungen führt. Die Ablehnung und Entfremdung zwischen Geber- und Nehmerländern nimmt längst zu, da die südeuropäischen Bürger ein Diktat aus Brüssel nicht hinnehmen wollen. 
Wenn man das Big Picture „Europa“ verantwortungsbewusst weiterverfolgen möchte, muss erst die Bevölkerung der betroffenen Länder wieder in die Lage versetzt sein, frei von Zwang und wirtschaftlichem Druck entscheiden zu können. Eine Währungsunion unter Gleichen ist ökonomisch höchst wünschenswert. Eine solche mit vom Volk nicht legitimierter Fremdbestimmung ist es nicht.

Ulrich Heil